Menschenversuche

Erinnerung und Gegenwart. Arbeiten wie „Im Wolfswinkel“ von Birgit Borggrebe entwickeln eine teils märchenhafte, teils düster-visionäre Kraft. Analoge Landschaften kommen noch einmal zum Vorschein, als wären sie Ausdruck einer Generation, die noch „draußen“ groß geworden ist, im Feld, im Wald, am Bahndamm. Repro: A. Klaer

Erinnerung und areligiöse Andacht: Marianne Gielen und Birgit Borggrebe stellen in der Galerie M aus

Der Mensch nach der Moderne ist das schizoide Tier, das immer nach vorne fällt. Oder besser stürzt, um eine aktuelle Begrifflichkeit des Philosophen Peter Sloterdijk zu verwenden, der seinerseits auf Friedrich Nietzsche Bezug nimmt, um zu verdeutlichen, dass dieses von Gott befreite Wesen nach dem Verlust seiner Mitte zwangsläufig auch seine Heimat verloren hat. Und seinen Halt. Während die Hauptsturzrichtung „vorwärts“ geht, sind die Sturzvarianten „rückwärts“ und „seitwärts“ selbstredend programmatische Anteile in der Selbstverwaltung der Entwurzelung. Das Bild vom fortwährenden Sturz, so räumt Sloterdijk ein, ist von jäher Unheimlichkeit. Martin Heidegger zu Hilfe nehmend, könnte man formulieren, in der Unheimlichkeit seiner unzureichenden Behausung ist dieser Mensch nach der Moderne ein stets verwundeter Akteur. Immer agiert er. Und immer fällt er. Mal mit der Brechstange, mal mit ausgefeiltem Sinn für das Sanfte sucht er nach sich selbst. Nach Haltepunkten. Nach seiner Biografie. Nach einem Zustand jenseits der Zerrüttung. Und erfüllt mithin die Statistiken des Misslingens und zweifelhafter, weil nie gelingender Erfüllung.

Wo ließe sich das besser nachzeichnen als in der Kunst. Wie am Beispiel der aktuellen Ausstellung „Abstrakt_Zwei Positionen“ in der Produzentengalerie M des Brandenburgischen Verbands Bildender Künstlerinnen und Künstler e.V. Marianne Gielen und Birgit Borggrebe treten in einen Wettstreit zweier Malerinnen, weniger damit am Ende eine Siegerin hervorgeht, als vielmehr um unterschiedliche Lebens- und Kunsttechniken zu vermitteln und bestenfalls einen Dialog zu entfachen.

Die kuratorische Idee, die vermeintlich herrschende Meinung anzufechten, wonach Abstraktion respektive Ungegenständlichkeit immer gleich aussähe, kann man sich getrost schenken. Abstraktion war in der Nachkriegsphase bei den Informellen ein Thema. Ebenso im grundsätzlichen Modus der Zerstörung der klassischen Malerei, ob bei den Bauhäuslern, den Dadaisten, später den Neo-Expressiven und deren mehr. Dass die Abstraktion oder sinnvolle Simulation an Formenarmut leiden würde und keine unterschiedlichen individuellen Ausdrucksmöglichkeiten zuließe, wäre eine leichthin frivole Behauptung. Doch dass hinter den frei flottierenden Formen mitunter ähnliche Motive stecken, das wäre eine Betrachtung wert.

Und diese Motive könnten bei beiden Malerinnen in etwa Erinnerung und areligiöse Andacht lauten. Marianne Gielen, ihrerseits auch Vorsitzende des BVBK, und Birgit Borggrebe gehören nicht mehr der jungen Generation an. Beider Formensprache resultiert aus einem inzwischen reichlich biografischen Arsenal, das von ganz persönlichen Wegmarken auch grundsätzliche gesellschaftliche Verwerfungen infiltriert. Zweifellos gilt, mit zunehmendem Alter verschieben sich die Koordinaten. Die Freiheitshymne der Jugend ist großflächig beschädigt. Dafür jedoch wachsen die Mittel, diese im rhetorisch-bildnerischen Diskurs noch einmal zu reaktivieren. Was also ist Vergangenheit? Was gehört aus dieser Vergangenheit mir? Was verbindet sich möglicherweise kollektivistisch mit dem Vergangenheitsbegriff der anderen? Was lässt sich mit einer Quasi-Andacht auch für die Gegenwart als bindend hervorheben, sollen nicht billige Sehnsüchte abgehandelt werden?

Somit durchdringen die Geschichte der Kunst und die jeweilige Biografie einander. Sichtbar wird das unter anderem bei Gielen, wo sich Tendenzen vom abstrakten Expressionismus mit dem konzeptuellen Ansatz des „Radical Painting“ kreuzen, um von einer Note Pointillismus überlappt zu werden. „Trügerische Idylle“ lautet ihre Serie. Gemalt wird mit Acryl und dickem Auftrag. Zu sehen ist ein Sujet, das einen Hybrid aus Unterholz und Uferzone darstellt und dabei die Adnoten des Lebenslaufs von Frühling bis Herbst durchschreitet. Spätrebellische, garstige Striche paaren sich mit schrillen Blau- und Rottönen, die ihrerseits von schwarzen Verästelungen durchzogen werden. Marianne Gielen fährt viel in der Welt herum, ist einst von Zehlendorf nach Potsdam gezogen, gewissermaßen eine Vollblutgewinnerin. Dann schaut sie – so ähnlich geht die Erzählung – auf die Begrünung rund um die Glienicker Brücke und fragt sich angesichts der geschichtlichen Schwere: Wo ist das alles hin? Die drohenden Kulissen. Die innerdeutsche Teilung. Auch der ästhetische Riss. Das eigene Leben.

Nicht minder durchschreitet Birgit Borggrebe das Arsenal aus Erinnerungen und Gegenwart. Auf der Seite der Erinnerungen wächst die Verwunderung, dass die ganz persönliche Vergangenheit nur noch in einem selbst existiert und den Anschein einer realen Existenz erwirkt. Aus diesem Fundes entstehen Arbeiten wie „Im Wolfswinkel“ mit teils märchenhafter, teils düsterer visionärer Kraft. Analoge Landschaften kommen noch einmal zum Vorschein, als wären sie Ausdruck einer Generation, die noch „draußen“ groß geworden ist, im Feld, im Wald, am Bahndamm.

Handwerklich bedient sich die ausgebildete Architektin der Techniken der Malerei, der Fotografie und des Siebdrucks. Formale Anleihen scheint es bei der Leipziger Schule zu geben. Auf der Seite der Gegenwart wiederum steht der Albtraum der täglichen Nachricht aus der globalen Apokalypse. Borggrebe selbst spricht von einem „schmalen Grat zwischen Idylle und Bedrohung“. Die ausschließliche Flucht in die Vergangenheit ist nicht erlaubt. Der pure, passive Aufenthalt in der Gegenwart wäre martialisch.

Das schizoide Tier kämpft also mit sich und seinen menschlichen Versuchen der Gleichgewichtsfindung. „Durch die weiße Finsternis“, „Am Morgen vom Dunst befreien“, „Die Flut“ – das alles sind schöne Titel für das Treibgut Mensch. Allein von einer erfüllenden Widerspiegelung der Realität kann wohl nicht mehr die Rede sein. Das ist in der Kunstgeschichte schon lange kein Thema mehr – und war es vielleicht nie.

Ralph Findeisen